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Titel
Die Zeit der Wirtschaft. Business Statesmanship und die Geschichte der Internationalen Handelskammer


Autor(en)
Spiliotis, Susanne Sophia
Reihe
Moderne europäische Geschichte 16
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, München

Die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) wurde im Juni 1920 in Paris gegründet, nachdem bereits im Jahr zuvor auf einer Konferenz in den USA ein entsprechender Beschluss gefasst worden war. Die ICC beanspruchte von Anfang an, „die Repräsentantin der Weltwirtschaft“ zu sein – „zwar ohne tagespolitische Ambitionen, doch gleichwohl von weltpolitischem Gewicht“ (S. 48). Zierten zunächst nur fünf Unterschriften die Gründungsurkunde, zählt die Organisation heute Mitglieder aus über 130 Ländern, hauptsächlich Wirtschaftsverbände und Unternehmen. Wer nun eine gradlinig erzählte Politik- und Organisationsgeschichte der ICC erwarten würde, wie im Untertitel zumindest angedeutet, könnte von dem Buch möglicherweise enttäuscht sein. Susanne Sophia Spiliotis, Privatdozentin für europäische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Moderne an der Universität Leipzig, hat sich mehr vorgenommen: Ihr geht es um die „Realgeschichte der Unternehmensverantwortung“ als „Geschichte des entsprechenden rhetorischen Handelns“ (S. 24), sie möchte das „Phänomen der temporalen Selbstverortung der Wirtschaft und seinen Wandel im 20. Jahrhundert“ rekonstruieren und „auf seine historische Erklärungskraft für internationale Institutionalisierungsprozesse“ untersuchen (S. 28f.). Weil „temporale Aspekte“ bereits „zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ für das Selbstverständnis der ICC „als kollektiver Akteur konstitutiv“ gewesen seien (S. 30), eignet diese sich nach Ansicht der Autorin besonders gut als Vehikel zur Erschließung des größeren Kontextes und zur Beantwortung übergeordneter Fragen: In welche „temporalen Bezüge“ stellte sich die ICC, welche „Räume der Verzeitlichung“ erschloss sie sich und „in wie hohem Maße“ war „Zeit im rhetorischen Handeln der ICC bereits bestimmend […], lange bevor die Nachhaltigkeitsdebatte die Temporalität der Wirtschaft neu akzentuierte“ (S. 9)?

Spiliotis stützt sich auf unveröffentlichte Quellen unter anderem aus den Archiven der ICC in Paris, der Economic Commission on Europe und der Vereinten Nationen, beide in Genf, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts und dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München mit dem ergiebigen, von ihr allerdings keineswegs „erstmals“ (S. 38) benutzten Nachlass Gerhard Riedbergs, des langjährigen Repräsentanten der Deutschen Gruppe bei der ICC. Außerdem hat sie die veröffentlichten Sitzungsprotokolle und Beschlüsse verschiedener ICC-Organe, zeitgenössische „graue“ Literatur und die einschlägige neuere und neueste Forschung ausgewertet – alles in allem eine solide und breitgefächerte Materialgrundlage.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Zunächst erläutert Spiliotis, wie bei akademischen Qualifikationsschriften – in diesem Fall eine Habilitationsschrift – üblich, Fragestellung, Begriffe und methodische Ansätze: Um ihrem Gegenstand und ihren Intentionen gerecht zu werden, hat sie sich für eine Kombination politik- und strukturgeschichtlicher Ansätze entschieden, um zeigen zu können, „wie sich die ICC selbst als politisch ambitionierte Institution entwickelte und sich zu strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft verhielt“ (S. 25).

Der zweite und mit über 150 Seiten bei weitem umfangreichste Teil der Studie ist der Entwicklung der ICC von den Anfängen bis in die Gegenwart gewidmet. Leserinnen und Leser werden zunächst in knapper Form über das Selbstverständnis und den organisatorischen Aufbau informiert. Wesentlich größeren Raum nehmen Rhetorik und Imagepflege ein: Die ICC inszenierte sich als „unbeirrbarer Herold eines multilateralen, horizontalen Internationalismus“ (S. 73), sie wollte Politik machen „ohne diplomatische Bremsklötze oder wahltaktischen Ballast“ (S. 78). Aus ihren Statements sprach von Anfang an ein „langfristig angelegter (Mit-)Gestaltungsanspruch, der die Privatwirtschaft in den internationalen Beziehungen auf Augenhöhe mit staatlichen Institutionen brachte“ und damit deren Monopol „als kollektive Akteure im internationalen System anfocht“ (S. 74). Den Erfolg dieser Bemühungen zu bestimmen, fällt naturgemäß schwer. Anders verhält es sich mit einem anderen, weniger “spektakulären” Tätigkeitfeld, das Spiliotis dankenswerterweise, wenn auch nur recht kurz, erwähnt: die Bemühungen um „alltagstaugliche Lösungen von Problemen des internationalen Warenverkehrs“, beispielsweise die „präzise Definition und einheitliche Auslegung handelsüblicher Vertragsformeln“ (S. 57), die in einschlägigen Kreisen berühmten „International Commercial Terms“ („Incoterms“) sowie um die „Etablierung einer gemeinsamen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit“, die bereits im Januar 1923 in die Gründung des ICC-Schiedsgerichtshofs mündeten.

Spiliotis‘ Hauptaugenmerk gilt in diesem Kapitel indes dem „rhetorischen Handeln“ der ICC. Da war zum einen der Versuch, an den zeitgenössischen, „friedensphilosophisch grundierten Diskurs“ anzuknüpfen, indem die ICC „in der universalen Allgegenwart wirtschaftlicher Aktivität den weltumspannenden, friedenstiftenden und konkurrenzüberwölbenden Grund ihrer Existenz“ (S. 67) verstanden wissen wollte. Und da war zum anderen und vor allem der Versuch, eine „Business Statesmanship“ zu begründen, indem manche Funktionäre der Pariser Zentrale der ICC eine „geradezu planetarische Bedeutung“ andichteten und eine „dominierende Stellung der Ökonomie gegenüber der Politik“ postulierten, noch dazu mit mehr „Power“ ausgestattet: „The Chamber was made for action, not for discussion“, wie es der erste Generalsekretär der ICC 1931 voller Enthusiasmus formulierte (S. 72). Ziel sollte es sein, „die Gesellschaften vor „unökonomischem“ Regierungshandeln zu schützen und wirtschaftliche Probleme so schnell wie möglich und im Sinne von Freihandel und Multilateralismus zu lösen“ (S. 95).

In den 1930er-Jahren begann sich das „politische Kapital“ der ICC in „immer neuen […] Appellen an den Friedenwillen der Politik“ (S. 103) allmählich aufzuzehren. Der Reaktion auf den Aufstieg totalitärer Regime widmet Spiliotis gerade einmal anderthalb Seiten. Dabei hätte sich hier doch die Gelegenheit geboten, die wohlklingende Rhetorik mit dem realpolitischen Verhalten abzugleichen. Dass der ICC-Kongress 1937 ausgerechnet in Berlin stattfand – vom Volksmund „Olympiade der Koofmichs“ getauft – war gewiss kein Ruhmesblatt in der Geschichte der ICC, wird aber von Spiliotis nur ansatzweise kritisch reflektiert: immerhin attestiert sie der Organisation einen „geschmeidigen Umgang mit dem NS-Regime“ (S. 140). Die letzten Abschnitte des Kapitels widmet Spiliotis dem allmählichen Abschied vom Konzept der Business Statesmanship, den sie auf die späten 1970er-Jahre datiert. Als Ursache nennt sie den Kontrollverlust der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft aufgrund der „Eigendynamik einer entfesselten Finanzwelt“ (S. 194). An deren Stelle rückten Konzepte wie „Corporate Social Responsibility“ und „Business Ethics“. Für Milton Friedman, daran erinnert sie in diesem Zusammenhang dankenswerterweise, war der „Appell an die Verantwortung der Wirtschaft nicht nur dummes Zeug, sondern vor allem eine fundamental subversive Doktrin“ (S. 167). In organisatorischer Hinsicht erwuchs der ICC in Gestalt des „World Business Council on Sustainable Development“ seit den 1990er-Jahren ein Rivale, der auf dem Weg, „politische Strukturen mitzugestalten“, die ICC sogar „überholt zu haben“ scheint (S. 204).

Der dritte Teil, überschrieben „Zeit der Wirtschaft – Zeit des Marktes?“, befasst sich in vergleichender Absicht mit hochkomplexen Fragen nach den „Anwendungsmöglichkeiten der (Selbst)Temporalisierung“, zum Beispiel damit, ob diese „nur in Richtung Zukunft oder auch retrospektiv“ funktioniert (S. 11). Diese Problematik erläutert Spiliotis unter anderem am Beispiel der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen. Das mag auf den ersten Blick überraschen, erklärt sich aber daraus, dass die Autorin zeitweise als Forschungsleiterin bei dieser Stiftung beschäftigt war und bereits wiederholt dazu publiziert hat.

Mit ihrem Buch leistet Spiliotis zweifellos einen substanziellen und innovativen Beitrag zur Erforschung der ICC im besonderen und der Rolle „der“ Wirtschaft im internationalen Geschehen im allgemeinen. Die Stärke liegt vor allem in der Rekonstruktion des „rhetorischen Handelns“ der ICC, also der Erfindung und Propagierung verschiedener Leitbegriffe, gesellschaftlich-politischer Ordnungsvorstellungen und governance-Konzepte. Der Gefahr, „sich von perfekter Werbung einlullen zu lassen und im Treibsand moralgesättigter Rhetorik und professionellen Framings unterzugehen“ (S. 22f), ist sie sich im Großen und Ganzen bewusst geblieben – und ihr nicht zum Opfer gefallen. Der hohe, pathetische Ton offizieller Verlautbarungen der ICC färbt allerdings gelegentlich etwas ab, etwa in der Formulierung, die Privatwirtschaft habe beansprucht, „aus eigenem Recht in die Speichen des Geschichtsrads einzugreifen“ (S. 120). Nicht unerwähnt bleiben soll schließlich eine äußerst hilfreiche Liste der Weltkongresse der ICC seit 1919 mit kurzen Angaben zu Mitgliederentwicklung und Inhalt. Alles in allem eine nicht ganz leichte, aber unbedingt lohnende Lektüre.

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